Zum Start des Festivals Radikal Jung im Volkstheater

Frührenter in den Flegeljahren

von Jan Stöpel

Grotesker Reigen: "Das Tierreich" vom Schauspiel Leipzig. Foto: Schauspiel Leipzig

Das ersten Wochenende ist gelaufen, Zeit für eine Zwischenbilanz von "Radikal Jung". Wir haben uns angeschaut: "Der perfekte Mensch", "Und jetzt die Welt!", "Das Tierreich" und "R + J" von Sashko Brama. Und fühlten uns ganz unterschiedlich stark berührt.

 

 

Der perfekte Mensch

Mit Techno geht es los, junge Menschen tanzen ekstatisch zum pulsierenden Bass. Wir ahnen, dass der Lärm die innere Leere füllen und die Frage übertönen soll: Was soll das alles, ich in dieser Welt, in diesem Leben? Die vier jungen Menschen schieben dann Glaswände umher, vielmehr, sie bewegen die Wände in einer geheimnisvollen Choreographie. Der Tanz sieht gut aus, wir warten, was daraus werden wird. Eine Spiegelwand, in der man sich betrachten kann. Und die man zu einem Labor oder Schutzraum umbauen kann.

Klinisch sauber: Annemaaike Bakker in "Der perfekte Mensch". Foto: Theater Bremen

Es geht natürlich um das, was von uns selbst entfremdet. Konsumterror (oder das Parfüm als Kampfmittel zur Okkupation eines Raumes), Selbstoptimierung, Aufgehen im Ich - oder in der Masse. Alexander Giesche hat diese Performance fürs Theater Bremen konzipiert und lässt für Annemaaike Bakker, Karin Enzler, Justus Ritter und Andy Zondag lediglich ein unterkühltes Spiel zu. Einmal darf Justus Ritter in einer Suada von kunstvoller Ziellosigkeit sich selbst bespiegeln, und wir im Publikum, über deren Köpfen gerade das Saallicht angegangen ist, bespiegeln uns mit. Das ist natürlich lustig, in der Menge sich und seine Nachbarn zu suchen, klar, und so werden wir auch Teil der Performance. Richtig neu ist das aber auch nicht. Sogar im stockkonservativen Bayreuth hat Stefan Herheim so schon seinen "Parsifal" aufgepimpt. Noch ein paar schöne Bilder zur selbstauferlegten Choreographie, die uns zu Nebenpersonen im eigenen Leben werden lässt - das war's. Viele Zitate, viel Kunst. Nicht ganz so viel Spannung.

Und jetzt: Die Welt!

Sibylle Bergs Text "Und jetzt: Die Welt!" ist ein souverän komponiertes Werk der Postmoderne. Hier ist alles nur noch Zitat, Versatzstück. Eine Textfläche "für eine oder mehrere Stimmen. Oder anders", wie es im Jahrbuch des Festivals heißt. Schon der größeren Abwechslung wegen liegt nahe, dass sich Jessica Glause in ihrer Inszenierung auf drei Schauspieler verlässt. Und so lässt sich - siehe Solostellen und Tutti-Passagen - Musikalität in diesen Text zaubern. Eine Musikalität, die Glause mit dem Musiker Joe Masi zusammen noch ausgearbeitet hat. Karoline Horster, Lorna Ishema und Lenja Schultze bringen diesen Monolog für Drei auf die Bühne, mit viel Tempo und einigermaßen großer Präzision. Es geht um "mich" und "die da draußen". Warum sind die immer jung, schön und vor allem ironisch?

Es gibt Lebensentwürfe so viele wie Kommunikationsmöglichkeiten, es wäre an der Zeit, die naheliegendste aller Kommunikationsarten zu wählen, die von Gesicht zu Gesicht da draußen, in der Welt. Aber noch ist man nicht zum Ende gekommen mit dem Nachdenken über sich, die Welt und - siehe oben - was das alles soll. Das Leben ein Provisorium im selbst eingerichteten Heimlabor, wo diese eilige Dreifaltigkeit der Ratlosigkeit Pillen zusammenmixt - Gelderwerb a la "Breaking Bad". Der Text tut so, als ob er an der Oberfläche bleiben wollte, zwischen losen Familienbanden und One Night Stands. In Wirklichkeit aber hört man am Nachhall, dass da Abgründe unterm Hochglanz lauern. "Schau, die Sonne geht unter. Vielleicht stirbt sie auch gerade aus", lautet einer dieser poetischen, bei aller Düsternis natürlich auch ironischen Sätze.

Keine Gewalt ist auch keine Lösung: Leute verkloppen als Episode bei "Und jetzt: Die Welt!". Foto: Volkstheater

Man würde gerne weiter drauf beharren, dass man ein Mensch ist, aus Fleisch, mit Körpergeruch und Haaren, weiß aber gar nicht mehr, ob das gefragt ist in dieser perfekten Welt. Also lässt man's. Könnte ja ohnehin sein, dass man sich das alles nur einbildet, das mit dem Sex, den Gefühlen, dem da Draußen. Bei all der Geschwindigkeit in dieser Inszenierung kommt man nicht zu sofort zum Nachdenken. Aber da hallt was nach. Gut.

Das Tierreich

Das Leben ist kein Ponyhof, vor allem nicht in der Jugend. Der Körper verändert sich, das Gesicht auch, alles nicht auf die vorteilhafteste Art, es ist zum Verzweifeln. Erst recht in dieser Gesellschaft von Gleichaltrigen, die ja nur auf irgendwas lauern. Das Leben ist ein Wettkampf. Und oft wissen wir gar nicht, was nach dem Zieleinlauf kommen soll: Massage oder Disqualifikation? Ein höchst ironischer Kommentar fiel Regisseur Gordon Kämmerer nach der Lektüre von Nolte Decars Roman "Das Tierreich" ein. Er schickt ein Sextett von Darstellern auf die Bühne, die in ihrer grotesken Körperlichkeit sofort an Gestalten aus einer Insenierung von Herbert Fritsch erinnern. Bleich geschminkt, hölzerne Bewegungen, der Haaransatz so hoch, dass man an Beavis & Butthead denken muss, erweckt diese Inszenierung nicht nur Erinnerungen an die eigene Jugend, sondern lässt auch an das jetzt schon absehbare Ende all dieser Lebensläufe denken: Kämmerer lässt sozusagen Frührentner spielen.

Es geht ums Versagen beim anderen Geschlecht, um Oberflächlichkeit, Eifersüchteleien, auch die große Politik, der man sich mit größtmöglicher Ahnungslosigkeit und Großmäuligkeit nähert. Das ist so monströs lustig wie die Choreographie der sechs Schauspieler. Total überdreht ist das, und doch nur ein - beabsichtigter - Leerlauf. Ein Hohldrehen um das herum, was den Menschen halt so beschäftigt, in diesem oder jenem Alter. Apropos Alter: Die Darsteller sind zwischen 25 und 60 Jahren alt, ein beabsichtiger Bruch, mit dem Kämmerer wieder auf die Festgelegtheit dieser Biographien hinweist. Als Musik gibt es kräftig aus den 80er Jahren. Gar nicht unbedingt deswegen, weil diese Lieder peinlich und damit theatral verwendbar wären, sondern als historisches Zitat. Was den einen oder anderen, der mit diesen Lieder aufwuchs, damals im Tierreich, dann doch prüfend die Linien der Falten im eigenen Gesicht nachrasten ließ. Ein gelungener, kurzweiliger Abend mit höchstmöglichem Einsatz der Mittel des Theaters, nicht unbedingt einer mit langer Nachwirkung.

Ein Schrei vom Maidan: Galyna-Mariya Pavlyk und Nazar Pavlyk in "R + J". Foto: privat/Volkstheater

"R+J"

Die Initialen stehen nun nicht für Radikal Jung, vielmehr für das Liebespaar mit kriegerischem Hintergrund schlechthin. Shakespeares Tragödie bildet die Unterlage für eine Collage, mit der Regisseur Sashko Brama vom Geschehen in der Ukraine (und damit von vielen anderen unerklärten Kriegen) erzählt. Eine Collage aus Lyrik, esoterisch anmutenden Videos, aus Heavy Metal, Sprechtext, gespielten Filmszenen und Doku-Szenen. Dieser Krieg in der Ukraine ist nicht zu verstehen, nicht für uns Außenstehende, nicht einmal für die, die ihn erleben. Und feststellen müssen, wie die Verwerfungen zwischen Freunden, Familien und Liebespaaren hindurchlaufen. Wer ist der Angreifer, wer greift zur Notwehr? Die Gewalt in der Ukraine hat eine lange Vorgeschichte, man sollte sie kennen, ohne Hoffnung allerdings, dass dadurch sehr viel klarer werden würde. Man habe von dem erzählen wollen, was man selber erfahren habe, sagt nachher Sahko Brama, beim Publikumsgespräch, in dem - nach viel Beifall - auch Kritik geäußert wurde. Einer, vermutlich ein Urkainer, wirft dem Regisseur vor, prorussisch zu denken. Ein anderer empfindet die laute Musik als Gewalt und spricht von einer "Spirale", die damit fortgesetzt wurde, und ruft damit Jurymitglied Kilian Engels auf den Plan: Wie Kunst Gewalt sein könne? Tatsächlich bilden Galyna-Maryia Pavlyk und Nazar Pavlyk die Gewalt und Ratlosigkeit nur ab. Und ein düsteres Gemälde lässt sich nun einmal nicht mit hellen Farben malen.

Dieser höchst eindrucksvolle Abend erzählt von Leiden, von Ausweglosigkeit. Aber er vermittelt eine unglaubliche Energie, vor allem dank der beiden Protagonisten, das Paar im Film und auf der Bühne. Und diese Collage vermittelt einen Eindruck davon, wie sich am östlichen Rand Europas Fiktion und Realität vermischen. Auf der Bühne natürlich, auch in der Propaganda. Aber auch in den Nachrichten. Das Klagen, die Macht der Bilder konnte man auch als Pathos empfinden, als theatral. Aber man kann ja auch zu Schiller zurückgehen. Das Pathos als Versuch sehen, das Leiden abzubilden und  zu überwinden.

Veröffentlicht am: 20.04.2015

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