Hievt euren Hintern aus der Couch!

von Jan Stöpel

20 Seiten, viele hunderttausend Käufer: Stéphane Hessels Streitschrift „Empört euch!“ gehört zu den Überraschungserfolgen auf dem Buchmarkt. Eine Revolution aber wird sich mit dem dünnbrüstigen Schriftlein nicht begründen lassen.

Ist da ein neues kommunistisches Manifest erschienen? Hat Charlotte Roche die Feuchtgebiete ausgeweitet? Hat irgendjemand abgeschrieben? Was ist passiert, dass alle Welt mal wieder über einen Text spricht?

Zunächst, dass sich ein Mann von 93 Jahren an den Schreibtisch gesetzt und keine Bilanz zieht, sondern sich zur Gegenwart äußert. Und dann ist der Autor auch nicht irgendeiner. Stéphane Hessel ist vielmehr einer der großen Zeugen des vergangenen Jahrhunderts: in Berlin als Sohn deutscher Eltern geborener Franzose, Widerstandskämpfer in der Resistance, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, Diplomat und Mitverfasser der UN-Menschenrechtscharta.

„Indignez-vous“, „Empört euch“, heißt das Pamphlet Hessels, der sich im späten Herbst seines Lebens auf seinen Frühling im Kampf gegen die Nazis besinnt. Ganz undiplomatisch ruft der Ex-Diplomat zur Erweckung des Widerstandsgeistes auf: „Ich wünsche allen, jedem und jeder unter euch, dass ihr ein Motiv zur Empörung habt. Das ist wertvoll. Denn wenn man sich über etwas empören kann, wie das bei mir mit dem Nationalsozialismus der Fall war, dann wird man militant, stark und engagiert.“

Über eine Million mal wurde der Text bereits verkauft, er wurde in Frankreich zum Renner, er ist in Deutschland ein Renner. Vier Euro kostet das Büchlein,  eigentlich ja auch ausreichend für etwas über 20 Seiten.

Nun entscheidet nicht so sehr die Anzahl der Seiten, ob aus einem Schrift- ein Sprengsatz wird. Es sind vielmehr der Relevanz und Konsequenz des Inhalts. Und da überrascht uns Hessel: Seine Schrift bewegt sich von Gemeinplatz zu Gemeinplatz und immer auf dem Boden der kleinsten gemeinsamen Wut. Irgendwie ist man geneigt, ihm zuzustimmen. Irgendwann aber will man sich's nicht mehr so einfach machen.

Da fordert einer eine Rückbesinnung auf die Errungenschaften der Menschenrechte und die wahren Forderungen der Résistance. Von der Zukunft des Planeten, Frieden und sozialer Gerechtigkeit ist die Rede, eigentlich, grob gesagt, von allem. Wie könne das Geld fehlen, soziale Errungenschaften zu bewahren, fragt er und gibt gleich die Antwort: „Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute.“

Hessel muss ein paar Zeilen darauf natürlich auch auf Bonibanker schimpfen. Die Résistance ist in seiner Schilderung dagegen ein brüderlicher Bund der Geldverächter. Da strickt einer an Legenden, der es aufgrund seiner Lebensleistung nicht notwendig hätte. Manchmal liegt er richtig, ist aber einfach nur banal: Die Welt sei komplizierter geworden, sagt Hessel, und überhaupt: „Wer heute etwas erreichen will, muss gut vernetzt sein und sich aller modernen Kommunikationsmittel bedienen.“ Ach!?

Längst nicht jeder Schluss Hessels ist sauber oder auch nur nachvollziehbar. Als eine der großen offenen Wunden lokalisiert Hessel richtigerweise den Nahostkonflikt. Doch Israel zum Schuldigen an Krieg und Gewalt zu machen, ohne auf die unangenehmen Nachbarn der einzigen echten Demokratie in der Region wirklich einzugehen, ist eine derartige Geschichtsklitterung, dass man ihre Adressaten eher am äußersten Rande des politischen Spektrums vermuten würde. Hessel kritisiert „Kriegsverbrechen“ der israelischen Armee an und findet es „unerträglich“, dass „Juden Kriegsverbrechen begehen können“. Warum nur Juden? Sind Kriegsverbrechen nicht generell unerträglich?

Am Ende steht Hessels Appell: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ Dafür sollen Leute auch nur 40 Cent ausgeben, geschweige denn vier Euro? Es ist vermutlich die Wucht der Persönlichkeit Hessels, die jene einfach gestrickte Schrift mit ihren Webfehlern zum Manifest macht. Und: Hessel trifft den Nerv von Menschen, die immer missvergnügter werden. Es ist doch was faul im Staate Dänemark, das spüren wir, irgendetwas läuft verkehrt in einer Zeit, da die Krisen immer dichter aufeinander zu folgen scheinen, ohne dass auch nur eine Lehre aus einem Desaster gezogen werden würde.

Und die Menschen haben schlechtes Gewissen. Wehren wir uns? Nur da, wo sie's direkt anzugehen scheint oder man sich betroffen fühlen darf (ein schlimmes Wort, das Hessel immerhin vermeidet), in Stuttgart, oder im Kampf gegen die Hochmoselbrücke. Geht's irgendwo zur besseren Welt? Nur, wenn wir mit dem Auto hinfahren können. Das kann so nicht weitergehen. Gut, dass uns das mal einer sagt.

Hessel hätte auch schlicht rufen können: "Hievt euern Hintern aus der Couch!" Dagegen ist an sich nicht so viel einzuwenden. Jeder darf Gemeinplätze besetzen oder auch mal Unsinn reden. Nur sollte man derlei nicht mit solchem Trara auf den Buchmarkt werfen. Hessels Forderung haben schon andere mit mehr Substanz vertreten. Gerade in Frankreich. Die ständige Empörung, die zum Ethos erhobene Revolte, ist eine – genau genommen die einzige taugliche - Reaktion auf die Absurdität der Welt, schreibt Camus im „Mythos des Sisyphos“. Und liefert die Begründung für ständiges, nie vom Erfolg gekröntes, sich selbst genügendes Bemühen, die Hessel schuldig geblieben ist: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Die jeden Tag wiederholte Anstrengung zum Mut, das dem Absurden zum Trotz geäußerte "Dennoch", könnte uns wieder zu echten politischen Wesen machen. Doch in solche Tiefen wagt sich der Bestseller Hessels nicht vor. Schade.

Stéphane Hessel, Empört Euch! Ullstein Verlag, 3,99 Euro.

Veröffentlicht am: 01.03.2011

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