Ferdinand Strackes Buch "Wohn Ort München"

Der Städtebau-König und seine Bibel für die neue Heimat

von Michael Grill

Von einem der großen Meister: Eine Wohnanlage von Sep Ruf am Habsburgerplatz in den 50er Jahren. Foto: Schiermeier Verlag

Der frühere Architektur-Professor Ferdinand Stracke ist ein Meister der Ausgewogenheit. Nun hat er ein wichtiges Buch über die Entwicklung von München geschrieben – und zieht eine persönliche Bilanz.

Es gibt da eine Geschichte, die er erst ganz am Schluss erzählt und eher am Rande: Da hätten ihm seine Studenten also eine „Handy-Cap“ gebastelt, eine Mütze, an die sie ein Mobiltelefon fest installierten, dazu habe er noch einen Golfschläger in die Hand gedrückt bekommen. Dann musste er los und quer durch die Stadt golfen, liebevoll gesteuert von den Seinen, die ihn als Spieler durch sein München trieben.

Ferdinand Stracke. Foto: F.R. Stracke privat

Das kann man sich sehr gut vorstellen bei Ferdinand Stracke, dem ehemaligen Ordinarius am Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der Fakultät für Architektur der TU München. Der 2003 emeritierte Sauerländer hat zum einen genug Humor, um einen lustigen Blödsinn mitzumachen. Zum anderen hatte er genügend Studenten, für die er Lehrer und Idol in einem war. Er ist eben einer, dessen Beliebtheit geradezu unheimlich ist, der aber vermutlich sehr genau weiß, dass man Storys wie die von der „Handy-Cap“ erst am Schluss einer Begegnung und nur am Rande erzählen darf, um nicht angeberisch rüberzukommen. Und das ist sie ja auch nicht, die warme, freundliche und kluge Stimme der Architektur-Wissenschaft in München.

Ferdinand Stracke, 77, hat schon einige Bücher geschrieben oder herausgegeben, unter anderem so spezielle wie „Die Nordwolle in Delmenhorst“ oder „Stadt – Werk“ über sein Fach an der Münchner TU. Kürzlich aber ist sein wahrscheinlich aufwendigstes und wichtigstes Werk erschienen: „Wohn Ort München“, das die Entwicklung seiner Wahlheimat in den vergangenen 125 Jahren beschreibt. Ein gewaltiger Band mit fast 400 Seiten, ein neues „Grundlagenwerk“ für München, wie das „Münchner Forum“ urteilte, eine Art Bibel des Münchner Wohnens. Das Buch ist das Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsarbeit von einem ganzen Team um Stracke. Dass von der Planung bis zur Fertigstellung aber tatsächlich sieben Jahre vergangen sind, solle man lieber doch nicht schreiben, sagt Ferdinand Stracke: „Da hält man mich ja für verrückt.“

Wie sich die Dinge doch klären, wenn man sich einmal intensiv damit beschäftigt. Zunächst wollte der Wissenschaftler das Wachsen der Landeshauptstadt ganz allgemein darstellen, er fand dann aber einen roten Faden: „Der Motor der Münchner Stadtentwicklung ist der Wohnungsbau.“ Während die Repräsentationsbauten sich oft behäbig gaben oder zumindest dem Zeitgeist verweigerten – und so das Image der Stadt maßgeblich prägten –, finde man im Wohnungsbau „auch den Einfluss der Moderne gespiegelt“, so Stracke. Eine Moderne, die „meistens sensibel mit Ort und Typologie umgeht“.Bedauerlich sei hingegen, dass sich vor allem die Nachkriegsmoderne eher einer beliebigen internationalen Linie anschloss, die in Kiel genauso aussieht wie in Garmisch oder in Sendling.

Beim Bau der "Reichskleinsiedlung" Freimann im Jahr 1932. Foto: Stadtarchiv München / Schiermeier Verlag

Frühstückstermin in Strackes Wohnung in Gern – er zieht, nebenbei bemerkt, tatsächlich auch privat den Neubau dem Altbau vor, was ja unter Architekten nicht immer selbstverständlich ist. Und dann beginnt er zu erzählen. „Alle Bemühungen der Stadtentwicklung in München haben mit der Beseitigung eines immerwährenden Notstandes zu tun – dem Wohnungsmangel“. Daraus leiteten sich die wichtigsten Fragen für das Buch ab: Wie geht man mit dem Mangel um? Welche städtebaulichen Typologien sind entstanden? Warum haben bestimmte Formen zu bestimmten Zeiten Gestalt angenommen? „Ich wollte Erklärungsmuster anbieten, damit man die Stadt im kulturellen Kontext einer europäischen Entwicklung lesen kann.“

Dabei setzt Stracke zum Teil andere Zäsuren als sie gemeinhin üblich sind. Der Wiederaufbau beginnt bei ihm zum Beispiel nicht erst mit dem Kriegsende 1945, sondern schon 1943, als Hitlers Rüstungsminister Albert Speer die ersten entsprechenden Anweisungen gab. Stracke lässt vieles in neuem Licht erscheinen: „Warum haben die Nazis in ihre ohnehin nur bescheidenen Ansätze im Wohnungsbau, etwa an der Prinzregentenstraße, immer auch Bunker integriert? So sehr können sie offensichtlich gar nicht an den Endsieg geglaubt haben.“ Und Stracke erzählt Geschichten, die uns heute skurril erscheinen müssen: Dass sich etwa bei der später sogenannten Amerikaner-Siedlung in Neuhausen Münchens damaliger Oberbürgermeister persönlich nach New York einschiffte, um mit Kreditgebern über Geld für den Bau der Wohnblocks zu verhandeln. „Solche Zusammenhänge will ich dem Leser erklären, wie auch die Widersprüche, die in der Stadtentwicklung stecken.“

Ferdinand Stracke wurde in Eslohe im Sauerland geboren, als Sohn und Enkel von Architekten. „Ich bin in den Beruf richtiggehend hineingezogen worden, ich habe früh Zeichnen gelernt, auch das Hinschauen“, sagt er. Er sitzt nun in seinem Büro gegenüber dem TU-Hauptgebäude, in dem er immer noch mit und für die Hochschule arbeitet, und erinnert sich an seine Anfänge als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Städtebau und Wohnungswesen an der TH Darmstadt. Schon damals habe er gemerkt, dass es „mich mehr zum Städtebau zieht: die soziale Sicht auf Stadt, Leben und Gesellschaft“. Es sei eine spannende Zeit gewesen: „Da gab es noch die großen Stadterweiterungen, da konnten schon mal Studenten einen Stadtteil für 30 000 Menschen planen, der zehn Jahre später tatsächlich auch fertiggestellt war – heute unvorstellbar.“

Es war die Zeit, in der ein neues Denken einsetzte, nachdem die neue Zeit auch Mängel zeigte: „Die Moderne hat ja nie eine Stadt hervorgebracht, sondern immer nur Siedlungen. In München sieht man das noch im Hasenbergl: solitäre Baukörper, aber kein Stadtbild. Heute erhöhen wir dort die Dichten, bilden die Stadträume nach.“

Es war Strackes Planergeneration, die umzusteuern begann: „Wir wollten wieder Raumdimensionen finden, Systeme entwickeln, Morphologien erkennen, mehr am Ort und der jeweiligen Typologie orientiert sein.“ So wurde er zu einem Fachmann für die Dichte beim Bauen – ein Urbanist, der sich von allen Ideologien gelöst hat. Und er hatte Glück beim steilen Aufstieg als junger Architekt: Der Städtebau-Professor Max Guther bot ihm den Einstieg in sein Büro an: „Ich hatte gerade mal zwei Jahre Diplom und schon 20 Leute im Büro, eine unvorstellbare Chance!“ In den sechziger Jahren begannen auch Strackes erste Kooperationen mit dem Städtebau-Lehrstuhl der Münchner TU. 1975 wurde er in Braunschweig selbst Professor und gründete dort sein eigenes Büro mit Außenstellen in Bonn und München. Mit gut 50 Jahren hatte er eigentlich ein komplettes Architektenleben hinter sich – da „holten mich die Bayern sozusagen in Braunschweig ab. Ich wollte noch mal ganz neue Seiten aufschlagen, da kam nur München in Frage.“ Stracke bekam den Lehrstuhl an der TU und wurde Ordinarius für Städtebau und Regionalplanung.

Neuperlach, umstritten bis heute. Foto: Franz Schiermeier

So hat er heute das Gefühl, dass „die Stadt für mich das ideale Zuhause geworden ist“. Für die Münchner Bauwelt wurde er eine zentrale Instanz. Er war Vizepräsident des Bundes Deutscher Architekten und Dekan seiner Fakultät, er ist Träger der Klenze-Medaille und ein moderater Antreiber vieler Diskussionen zur Münchner Stadtgestalt. Er war beziehungsweise ist das perfekte bauwissenschaftliche Gegenstück zur Ära von Stadtbaurätin Christiane Thalgott und Oberbürgermeister Christian Ude.

Stracke ist ein ausgewogener Charakter, auch Lob und Kritik halten sich bei ihm die Waage. „Ende der achtziger Jahre hatte auch ich das Gefühl, dass sich Mehltau über die Stadt gelegt hatte“, so Stracke. Kritiker warfen dem damaligen Stadtbaurat Uli Zech vor, seine jahrzehntelange Amtszeit seien „die fetten Jahre für das Mittelmaß“ gewesen. Stracke verteidigt Zech, moderat wie immer: „Als Entwicklungsplaner hat er viel getan.“ Er findet aber auch: „Erst Thalgott hat die Stadt wieder dem Thema Architektur nähergebracht.“ Und dann erklärt er in wenigen, klaren Sätzen, warum der neue Stadtteil in Riem trotzdem so sehr darunter leidet, dass ihm ein richtiges Zentrum fehlt und kommt zu dem Fazit: „Unsere Gesellschaft ist offenbar kaum noch in der Lage, gute Plätze zu bauen.“

Ob sich Stracke auch selbst im Münchner Stadtbild verwirklicht hat, ist eine kaum zu beantwortende Frage: Einerseits war er Fachpreisrichter in 150 Wettbewerben, er ist Verfasser der (auch nach dem Bürgerentscheid) maßgeblichen zweiten Münchner Hochhausstudie und der Entwicklungskonzepte für den Mittleren Ring. So gesehen, steckt in fast jedem Stück München mittlerweile ein bisschen Stracke. Andererseits gibt es hierzulande kaum ein sichtbares Bauwerk von ihm. Am ehesten kann er sich noch berufen auf den Entwurf für die Struktur von Neuperlach-Süd, an dem Stracke in den sechziger Jahren mitgeplant hat: „Das ist heute gerade noch so an einigen wenigen Spuren erkennbar.“ Überhaupt: „Wie das aussah, bestimmte die Neue Heimat.“ Heute sei für die Münchner Zukunft wichtig das Riesenprojekt Freiham: „Dort wird man die Gartenstadt neu erfinden müssen.“

An Neu-Riem hat man sich inzwischen gewöhnt. Stracke findet, dass dem Stadtteil die Mitte fehlt. Foto: Franz Schiermeier

Für das „Wohnort-Buch“ hat Stracke mit dem Verleger und München-Experten Franz Schiermeier einen idealen Partner gefunden, auch wenn alle Beteiligten mit der Dimension des Projekts schwer zu kämpfen hatten. Jetzt, da es fertig ist, lobt OB Ude, dass Strackes Werk „den Wohnungsbau, der in einer Flut von Monacensia praktisch überhaupt nicht vorkam, endlich in den Mittelpunkt rückt“ und „damit zu einem zentralen Münchner Thema unverzichtbare Grundlagen liefert“. Dass Stracke zudem für hochverdichtete Stadt-Dörfer im Münchner Umland plädiert, wird vom OB mit freundlichem Spott bedacht: „Immerhin: Die Diskussion ist eröffnet, und Stracke erlaubt sich sogar die Frage, ob nicht wegen des Flächenmangels, aber auch aus Klima- und Umweltschutzgründen die persönlichen Flächenansprüche an das Wohnen reduziert werden müssen. Kein Politiker würde das wagen. Aber zum Glück gibt es ja auch die Wissenschaftler.“

Der lächelt dazu sein gütiges Professorenlächeln. Stracke hat noch eine Geschichte, die man am besten am Schluss und nebenbei erzählt, damit es nicht eingebildet wirkt. Einmal entführte ihn seine Klasse nachts auf eine Waldlichtung. Dann wurde Licht angeschaltet – und seine Studenten tanzten für ihn unter freiem Nachthimmel eine Art Architekturtheater. „Ganz allein für mich, ich durfte mich fühlen wie Ludwig II., wenn Richard Wagner nur für ihn alleine Opern aufführen ließ“, schwärmt Stracke noch heute. Wenn einer als Lehrmeister so viel liebevolle Huldigung widerfährt, hat er wohl einiges richtig gemacht.

Ferdinand Stracke: „Wohn Ort München – Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert“, erschienen im Schiermeier-Verlag, 384 Seiten, 42,50 Euro.

Veröffentlicht am: 17.07.2012

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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