Zeitreise mit Stanislaw Lem im Rationaltheater: Pantalone in Sci-Fi-Hosen

von Michael Wüst

Jo Vossenkuhl und Hank Flemming (v.l.) auf Lem'scher Zeitreise (Foto: Michael Wüst)

Die Vorleser Jo Vossenkuhl und Hank Flemming luden im Schwabinger Rationaltheater zu einer Zeitreise mit Texten von Stanislaw Lem.

Schon allein das Rationaltheater zu betreten, heißt eine Zeitreise tun. Wohlig versetzt also in das charmante Ambiente der 1960er Jahre, erwarteten versprengte Lem-Fans amüsante Spiegelfechtereien des Ichs in Gestalt jenes stellaren Münchhausen Ijon Tichy, Protagonisten im umfangreichen Werk des Autors. Unterstützt wurde die Lesung durch einen Film der Videokünstlerin Carmen Kordas, live begleitete am Keyboard der Filmkomponist Friedemann von Rechenberg.

Es war den Vorlesern nicht genug, einen Text von Lem zu bringen, nein, die mussten gleich zwei ineinander verweben, miteinander verschlingen: daraus wurde so etwas wie ein doppelter Vortex oder vierdimensionaler Strömungsstrudel. Gewisse Erzählstränge verließen immer wieder den Raum der Versprengten. Der dramaturgische Knoten schien sich draußen in anderer Zeit zu knüpfen, gekrümmt in Schleifen, ungewiss in Ausgang, Ort und Zeit. In solchen ratlosen Momenten ist es dann gerade Lems fantastisch-fatalistische Komik, die den Sinn herstellt, kopfschüttelnd, lachend, herzzerreißend.

Zwei Texte, die "Siebte Reise" aus den Sternentagebüchern und "Verdoppelung", zeigen beide auf ihre Art , dass Verdoppelung und Trennung nur die zwei Seiten einer Unwirklichkeit sind. These, Antithese? Im zeitreisenden Tichy, Ritter von der kosmischen Gestalt, Pantalone in Sci-Fi-Hosen, verschmelzen Schizophrenie und Ich-Proliferation im All zwischen den Windflügeln banaler Dialektik. Wie fein Systemkritik sein kann!

Huston, wir haben mehr als ein Problem, Jo Vossenkuhl (Foto: Michael Wüst)

Die Sternentagebücher, beginnend mit "Siebte Reise", entstehen seit 1957 im stalinistischen Polen. Wie kam's? Was also ist Ijon Tichys Problem? Lem gibt sich da seriös, was ja allein schon ein Brüller ist: Es soll damals im Rahmen einer Mission LEM (Lunar Efficent Missionary) passiert sein! Und er beeilt sich hinzuzufügen, Armstrong und Aldrin von Apollo 11 seien ebenfalls mit LEM auf dem Mond gewesen. Wunderbar zertifiziert. Damals ist es nämlich passiert, dass Tichy plötzlich mitten im Hirn einen spaltenden Schmerz gespürt hatte beim lunaren Wasserlassen an einem Felsen, den er endlich gefunden hatte in den peinlichen Weiten des Mare Serenitatis. Für den Experten kein Problem: Fernausgelöste, integrale Kallotomie ist die Durchtrennung der Brücke zwischen beiden Gehirnhälften, genannt Corpus Callosum.

Da sitzen nun beide auf der Bühne und unterhalten sich in ihrem Monolog der abgebrochenen Brücke. Links Jo Vossenkuhl, der Kallotomierte. Beflissen mitleidlos betrachtet er seine Symptome, referiert quasi über seinen Missstand. Die linke Hand hat er am Stuhl festgebunden, weil sie ihm, der rechten vulgären, emotionalen Hirnhälfte angehörend, schon öfter mal eine reingehauen hat - vor allem, wenn er Texte tippt. Sie, die vulgäre, die rechte Hälfte, kann nämlich nicht lesen! Aber wenn er redet, was er auch von der linken Hälfte aus tut, hört sie zu. Sie versteht am besten Substantive und schlechten nominalistischen Stil. Immer wieder sagt er, wie mit einem Zeigefinger vor den Lippen, "sie", nur "sie", wenn er von seiner rechten Hälfte spricht und man gewinnt den Eindruck, dort stände Sie hinter der Tür mit dem virtuellen Nudelholz im Anschlag - Klamauk des misogynen Lem.

Andere Probleme hat der, der rechts auf der Bühne sitzt, Hank Flemming. Tichy, sind sie's? Kallotomie wird dort nicht erwähnt, dieser Tichy hat andere Probleme. Seitdem irgendein interstellarer Müll die Hülle seines Raumschiffs durchschlagen hat - sagte er LEM? - funktioniert der Hubregulator nicht mehr richtig, das Raumschiff wird immer schneller und ein Pfund Rindfleisch ging auch schon verloren. Tichy, am Stuhl festgebunden, würde gerne helfen, man müsste nur irgendwelche Steuerschrauben festdrehen. "Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, dass es Sie nicht gibt", entgegnet die rechte Seite kühl.

Doch damit nicht genug. Mit einfacher Schizophrenie gibt sich Lem nicht zufrieden. Hank Flemming, Tichy der rechten Hälfte (Bühne, nicht Hirn), hat mit speziellen Problemen zu kämpfen, die nach der Durchquerung von Gravitationsstrudeln - wohl die Vorläufer der Hawkinschen Wurmlöcher - auftreten. Die Zeitverschiebungen, die innerhalb der Strudelquerungen entstehen, produzieren Verdoppelungen des Reisenden, und zwar im Rhythmus von Wochentagen. Da spricht dann der Mittwochs-Tichy mit dem Donnerstags-Tichy, rechts, während der kallotomierte Tichy links den rechts anfeuert, den Antrieb zu reparieren. Im Hintergrund erscheint die legendäre Couch von Freud mit ihren unsäglichen Teppichen schwebend im All. Da reißt sich die linke Hand des kallomierten Tichy los. Allmächt! Der Schraubenschlüssel fällt ins All. Wenig tröstlich, dass er in sechs Millionen Jahren in einer elliptischen Bahn auf ein Pfund Rindfleisch stoßen wird. Außerdem, was soll's? Es gibt nur einen Raumanzug, so fängt's schon einmal an! Hilfe!

Großartiger Text, großartige Schausprecher!

Veröffentlicht am: 25.02.2012

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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